Anlässlich des Tags der Menschenrechte hat sich der Bremer Landesbehindertenbeauftragte Arne Frankenstein wie folgt geäußert:
„Wir erleben in dieser Pandemie seit zwei Jahren, dass behinderte Menschen benachteiligt werden. Die Auswertung der getroffenen Maßnahmen zeigt, dass Lösungen sich zu selten daran orientiert haben, ob sie inklusiv sind. Es fehlte an einem übergeordneten Gesamtkonzept, um die gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe behinderter Menschen sicherzustellen. Ein solches ist auch heute nicht erkennbar. Vielmehr droht angesichts der bereits eingetreten Überlastungsreaktionen im gesamten Gesundheitswesen ein Schreckensszenario. Denn nicht mehr ausgeschlossen erscheint, dass der Fall eintritt, in dem über die Bereitstellung intensivmedizinischer Versorgung im Rahmen einer Auswahlentscheidung befunden werden muss. In Fall einer solchen „Triage“ könnten indes behinderte Menschen von lebensrettenden Maßnahmen ausgeschlossen sein.
Die Debatte darüber, wie eine Auswahl aus medizinischer und ethischer Sicht getroffen werden kann und wie ein Verfahren zur Durchführung in den Krankenhäusern aussehen kann, wurde in Deutschland durch Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) im März 2020 angestoßen. Die darin enthaltenen Empfehlungen haben zu erheblicher Kritik geführt, da sie u.a. vorsahen, die Prüfung der Erfolgswahrscheinlichkeit einer Behandlung zum wesentlichen Maßstab zu erklären und diese u.a. von der erreichten Punktzahl auf einer sog. Gebrechlichkeitsskala abhängig zu machen.
In der vergangenen Woche sind die Empfehlungen, die rechtlich nicht verbindlich sind, aber von denen erwartet werden kann, dass sie in der Praxis Anwendung finden werden, zum wiederholten Mal aktualisiert worden. Es findet sich darin der Satz, dass eine Priorisierung nicht zulässig sei aufgrund einer Vorerkrankung oder Behinderung. Vorerkrankungen seien zudem nur dann relevant, wenn sie die Überlebenswahrscheinlichkeit hinsichtlich der aktuellen Erkrankung beeinflussen könnten. Indes sind fortgeschrittene Erkrankungsstadien des Herzens, der Niere, der Leber, neurologische oder Krebserkrankungen als solche aufgezählt, die typischerweise in ihrer Schwere die Überlebenswahrscheinlichkeit deutlich verringern.
Die Unsicherheit also bleibt. Nicht nur, was die Grundlage der Entscheidung, sondern auch die Anwendung in der Praxis angeht. Eine Verfassungsbeschwerde potentiell von einer Triage betroffener behinderter Menschen mit dem Ziel, den Gesetzgeber zu verpflichten, eine verbindliche und diskriminierungsfreie Lösung zu entwickeln, um der Schutzpflicht des Staates gegenüber behinderten Menschen aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz zu genügen, ist bislang noch nicht entschieden worden. Mit der aktuellen Entscheidung zur Bundesnotbremse hat Karlsruhe aber deutlich gemacht, dass den Gesetzgeber in Notsituationen eine Handlungspflicht treffen kann, wenn die Nachteile und Gefahren, die aus freier Grundrechtsausübung erwachsen, besonders groß sind. Was dies für die Verfassungsbeschwerde zur Triage bedeutet, bleibt abzuwarten.
Der Landesteilhabebeirat der Freien Hansestadt Bremen hat sich anlässlich seiner letzten Sitzung mit dem Thema befasst und einen Beschluss gefasst, die Krankenhäuser im Land Bremen auf die Problemlage hinzuweisen und dafür zu sensibilisieren, behinderte Menschen bei einer zu treffenden Auswahlentscheidung nicht zu diskriminieren. Ferner sollen die Belange behinderter Menschen und ihre spezifischen Bedarfe bei der Frage, welche elektiven Behandlungen stattfinden, hinreichend Berücksichtigung finden.
Das allein genügt aber nicht:
Niemand darf wegen seiner Behinderung diskriminiert werden. So steht es in unserer Verfassung. Diese Gewährleistung gilt immer und muss sich gerade in Krisenzeiten bewähren. Ich erwarte deshalb, dass Grundlagen mittlerweile leider denkbarer „Triage“-Entscheidungen nicht von Medizinern und Ethikern, sondern angesichts der Erwartbarkeit und der möglichen Auswirkungen eines solches Szenarios vom Gesetzgeber getroffen werden. Aus diesem Grund fordere ich die die politischen Parteien in Deutschland und konkret die Fraktionen im Deutschen Bundestag auf, sich dieser schwierigen Frage im Rahmen von Expertenkonsultationen anzunehmen und hieran konsequent die Vertretungen behinderter Menschen zu beteiligen.
Dadurch dass diese und andere im Zusammenhang mit Corona existenziellen Fragen derzeit intensiv diskutiert werden müssen, geraten viele wichtige Zukunftsthemen in den Hintergrund. Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung bietet viele Anknüpfungspunkte für eine progressive Politik behinderter Menschen. Um diese konkret mit Leben zu füllen und die Rechte behinderter Menschen als Querschnittsaufgabe weiterzuentwickeln, wird die volle Aufmerksamkeit, die Kreativität für neue rechtliche Gestaltungen und die Überzeugungskraft der Interessenvertretung behinderter Menschen benötigt. Aus den politischen Absichtserklärungen müssen möglichst viele konkrete Regelungen folgen, die einen ernsthaften Effekt haben und sich nicht in Symbolhaftem erschöpfen. Am Tag der Menschenrechte ist deshalb daran zu erinnern, dass die Weiterentwicklung sich stets an den Gewährleistungsgehalten der UN-Behindertenrechtskonvention zu orientieren hat, die fast auf den Tag genau vor 15 Jahren in New York verabschiedet worden ist. Und es ist daran zu erinnern, dass der Fachausschuss Deutschland zuletzt ein schlechtes Zeugnis ausgestaltet hat. Deutschland ist mit der Umsetzung der Konvention in Verzug. Es verharrt zu oft in alten Strukturen und bricht diese zu selten konsequent auf.
Es fällt angesichts der gegenwärtigen Bedrohungslage durch die Pandemie nicht immer leicht, den Blick nach vorne zu richten. Oft fehlt die Kraft, die vielen Belastungen zu schultern, die derzeit uns alle treffen. Oft sind oder geraten wir an die Grenze dessen, was geleistet werden kann – oder auch darüber hinaus. Für mich zeigt sich aber gerade in der Krise auch, dass gesellschaftliche Veränderungsprozesse gebraucht werden. Für mich zeigt sich, dass wir durch Krisen besser hindurchkommen können, wenn wir inklusiv aufgestellt sind. Wenn wir selbstbestimmt überall mit Assistenz leben können, auch wenn wir rund um die Uhr Unterstützung brauchen. Wenn wir auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig sein können und ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsentgelt bekommen, das zum Leben gut reicht. Wenn wir überall gute ärztliche Versorgung haben. Wenn wir uns digital oder analog treffen können, ohne dass jemand draußen bleiben muss. Und wenn wir, ohne dass man dafür Geld und einen Anwalt braucht, unsere Rechte durchsetzen können, zum Beispiel durch Schlichtungsverfahren und Verbandsklagerechte. Für mich ist die Krise deshalb auch ein Ansporn, weiter für Inklusion und Teilhabe zu streiten. Und ich hoffe, dass wir das oft gemeinsam tun können.“