Bremens Schulreform erhielt im Sommer 2011 ein Lob von Dr. Valentin Aichele, dem Leiter der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention, die 2008 vom Deutschen Bundestag und Bundesrat mit der Begleitung der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention (BRK) beauftragt wurde.
"Mit der Schulreform in Bremen hat das Land die Weichen für ein inklusives Bildungssystem gestellt, weitere Anstrengungen sind aber erforderlich", erklärte Dr. Aichele damals.
Bremen, so erläuterte Dr. Aichele seinerzeit, habe mit der Auflösung der Förderzentren bei gleichzeitigem Aufbau von Zentren für unterstützende Pädagogik an den allgemeinen Schulen wichtige Strukturentscheidungen getroffen, die in die richtige Richtung eines inklusiven Schulsystems gingen und mit der Konvention im Einklang stünden.
In der Übergangszeit, so Dr. Aichele im Sommer 2011 weiter, könne die Kapazitätenbeschränkung öffentlicher Schulen gerechtfertigt werden, vorausgesetzt, die gegebenen Plätze würden diskriminierungsfrei vergeben und bei einer darüber hinausgehenden Nachfrage im Rahmen "angemessener Vorkehrungen" Lösungen gefunden. Außerdem müssten die Strukturen inklusiver Bildungsangebote im Sinne progressiver Verwirklichung weiter zielstrebig und wirksam orientiert an den tatsächlichen Bedarfen ausgebaut werden. Ziel müsse im Übrigen sein, die Ungleichbehandlung verschiedener Behinderungsarten zugunsten einer rein individuellen Behandlung aufzulösen.
Und wie ist die Situation heute, Anfang des Jahres 2013 und gut anderthalb Jahre nach dem Lob des Bremischen Schulgesetzes durch den Leiter der Monitoring-Stelle?
Die Frage der Finanzierung von Schulassistenzen insbesondere auch für Schülerinnen und Schüler mit hohem Unterstützungsbedarf ist nach wie vor nicht zufriedenstellend geklärt, behinderte Kinder und Jugendliche erhalten häufig keine Assistenz in dem erforderlichen Umfang, und Eltern sind weiterhin darauf verwiesen, die berechtigten Ansprüche ihrer Kinder auf Schulassistenzgerichtlich durchzusetzen.
Dass die bisher vier der ursprünglich geplanten acht Regionalen Beratungs- und Unterstützungszentren (ReBUZ) ausreichen und zwischenzeitlich personell auskömmlich ausgestattet sind und damit ihre Aufgaben voll umfänglich wahrnehmen können, ist bisher nicht erkennbar.
Auch der zweite im Herbst 2012 vorgelegte Entwurf einer "Verordnung für unterstützende Pädagogik" (VuP), die die Sonderpädagogikverordnung ablösen soll, ist stark umstritten. Der Verordnungsentwurf schreibt die bisherige Feststellungsdiagnostik im Interesse einer Steuerung der Ressourcen längerfristig fest und zementiert damit die Ungleichbehandlung der verschiedenen Behinderungsgruppen auf Dauer statt den Weg zu einer Förderdiagnostik zu öffnen, die sich an den individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen behinderter Schülerinnen und Schüler orientiert.
Die am 26. November 2012 zurückgetretene Bildungssenatorin Jürgens-Pieper hat ihren Rücktritt damit begründet, dass sie die Entscheidung des Koalitionsausschusses am 25.11.2012 zum Umgang mit dem strukturellen Defizit nicht mittragen könne. Aus Sicht von Frau Jürgens-Pieper ist der Bildungshaushalt, mindestens was die Inklusion betrifft, nicht hinreichend ausgestattet.
In dem genannten Beschluss des Koalitionsausschusses heißt es u.a.: "Darüber hinaus wollen wir bei der Umsetzung der inklusiven Beschulung Schlüsse aus ersten Erfahrungen der Beschulung für verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler ziehen. Die gegenwärtigen Erfahrungen zeigen, dass die Fritz-Gansberg-Schule im Übergang noch eine wichtige pädagogische Rolle spielt. Wir werden prüfen, wie zusätzlich einige Schülerinnen und Schüler vorübergehend in dezentralen Lerngruppen betreut werden können. Das hierfür erforderliche zusätzliche Personal werden wir bereitstellen.
Die Vorbereitung und Umsetzung aller Maßnahmen soll so rechtzeitig abgeschlossen werden, dass die Schulen Planungssicherheit für den Beginn des Schuljahres 2013/2014 haben."
Aus einem Schreiben der Senatorin für Bildung und Wissenschaft an die Leitungen der Zentren für unterstützende Pädagogik (ZuP) vom 08.01.2013, mit dem der Koalitionsbeschluss zu "verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern" offenkundig umgesetzt werden soll, ergibt sich, dass es im Anwahlverfahren zum Übergang Klasse 4 nach 5 für die Schülerinnen und Schüler mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf emotional-soziale Entwicklung in diesem Jahr folgende Änderung gibt:
"Die oben genannten Schülerinnen und Schüler erhalten keinen Anwahlbogen. Der Förderort wird durch die Senatorin für Bildung und Wissenschaft entsprechend § 35 des Bremer Schulgesetzes bestimmt. Als Förderort ist die Schule An der Fritz-Gansberg-Straße vorgesehen."
Sollten die ZuP-Leitungen aufgrund Ihrer fachlichen Kompetenz zu der Einschätzung gelangen, dass die Förderung auch im Rahmen der Regelbeschulung in einer Inklusionsklasse der Oberschule geleistet werden könnte, sollen sie dem genannten Schreiben zufolge der Bildungsbehörde "eine qualifizierte Stellungnahme" zusenden.
Damit wird die Inklusion bzw. der gemeinsame Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf emotional-soziale Entwicklung zur Ausnahme: nur im Falle des Vorliegens einer qualifizierten Stellungnahme soll noch eine Regelbeschulung in einer Inklusionsklasse einer Oberschule in Betracht kommen.
Ob dies mit dem sich aus § 70a Bremisches Schulgesetz ergebenden (eingeschränkten) Elternwahlrecht und Art. 24 BRK vereinbar ist, erscheint zweifelhaft.
Dabei geht es nicht um die Frage, ob es im Ausnahmefall notwendig und möglich ist, Schüler und Schülerinnen vorübergehend oder für einen längeren Zeitraum aus dem gemeinsamen Unterricht herauszunehmen, um diesen zu sichern sowie die anderen Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen, Lehrer und Assistenzkräfte zu schützen. Dies ist bereits unter den bisherigen Bedingungen möglich; schließlich haben die ReBUZ unter anderem auch die Aufgabe, für die in Rede stehenden Schülerinnen und Schüler "schulersetzende Maßnahmen" durchzuführen.
Bei der vom Bildungsressort jetzt angestrebten Verfahrensweise sind die Interessen und Rechte der Schülerinnen und Schüler mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf emotional-soziale Entwicklung gegenüber denjenigen der anderen Schülerinnen und Schüler nicht in der rechtlich gebotenen Weise austariert. Allein die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs emotional-soziale Entwicklung soll zur separierten Beschulung führen, von der nur in begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden kann. Rechtlich zulässig hingegen wäre die umgekehrte Herangehensweise: nur in individuell begründeten Ausnahmefällen dürfen Schülerinnen und Schüler als "ultima ratio" (letztes Mittel) separiert unterrichtet werden.
Die jetzt beabsichtigte Rückkehr zu einer separierenden Beschulung von Schülerinnen und Schüler mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf steht im Widerspruch zu dem Auftrag an bremische Schulen aus dem Schulgesetz, sich zu inklusiven Schulen zu entwickeln, und stellt damit einen Rückschritt dar.
Mit diesem (Rück-) Schritt wird im Übrigen ein grundlegender Fehler vergangener Schulreformen wiederholt. Die Entwicklung hin zu inklusiven Schulen wird dreieinhalb Jahre nach ihrem Beginn - wenn zunächst auch nur bezogen auf die Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf emotional-soziale Entwicklung - abrupt abgebrochen, um diese Schülergruppe zukünftig wieder separiert in einem Förderzentrum bzw. einer Förderschule, nämlich in der Fritz-Gansberg-Schule zu unterrichten. Bevor das neue System sich überhaupt hat entwickeln können, wird es wieder um- bzw. rückgebaut.
Keine Frage: Schülerinnen und Schüler mit herausforderndem Verhalten sind - unabhängig davon, ob bei ihnen ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert ist oder nicht - für Schulen eine Herausforderung.
Die Antwort auf diese Herausforderung könnte statt rechtlich zweifelhafter Separierung aber auch lauten: wir verbessern die Ausstattung der Schulen so, dass sie nur in begründeten Ausnahmefällen Schülerinnen und Schüler verhaltensbedingt vom allgemeinen Unterricht ausschließen müssen.
Insgesamt scheint es so, als spiegelten die Engpässe bei den Schulassistenzen, die beabsichtigte Festschreibung der Feststellungsdiagnostik zur Ressourcensteuerung sowie die nunmehr beabsichtigte separierende Unterrichtung von Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung die strukturelle Unterfinanzierung des Bildungshaushaltes und insbesondere auch der Inklusion wider.
Zu wünschen bleibt, dass sich die Erkenntnis der Unterfinanzierung auch bei der neuen Bildungssenatorin sowie den weiteren verantwortlichen Politikerinnen und Politikern der Koalitionsparteien durchsetzt und sie spätestens im nächsten Haushalt "eine Schippe drauflegen".
Andernfalls besteht die Gefahr, dass nicht nur die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems, sondern die Schulreform des Jahres 2009 mit all ihren positiven Ansätzen insgesamt scheitert.