SWR Aktuell Interview 15.11.2024 (mp3, 15.5 MB)
SWR aktuell. Mit Bernhard Seiler.
Guten Morgen.
Bahnsteige, die nur über Treppen zu erreichen sind, keine oder zu wenige Behindertenparkplätze oder Wohnungen,
in die man mit Rollstuhl gar nicht reinkommt. Barrieren für Menschen mit Behinderungen gibt es im Alltag nach wie vor viele.
Sie sollten in einer inklusiven Gesellschaft aber eigentlich so weit wie irgend möglich reduziert werden.
Daran arbeitet Arne Frankenstein.
Er ist der Landesbehindertenbeauftragte von Bremen und seit gestern Gastgeber der Konferenz der Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern.
Heute Nachmittag endet die Veranstaltung und die Forderungen an die Politik sollen dann im sogenannten Bremer Appell formuliert werden.
Guten Morgen, Herr Frankenstein.
Arne Frankenstein:
Moin, Herr Seiler.
Bernhard Seiler:
Fangen wir mal mit dem Ist-Zustand an. Ein paar Beispiele für Barrieren im Alltag habe ich eben genannt.
Welche besonders großen Ärgernisse sind aus Ihrer Sicht da noch zu ergänzen?
Arne Frankenstein:
Es geht ganz grundsätzlich darum, dass wir immer noch keine inklusive Gesellschaft sind.
Das hat letztes Jahr auch noch mal der Fachausschuss bei den Vereinten Nationen ganz deutlich gesagt, dass Deutschland eben ein richtiges Umsetzungsdefizit hat.
Und das betrifft ganz viele Bereiche. Sie haben es angesprochen, das betrifft die Barrierefreiheit.
Nicht nur im öffentlichen Sektor, auch, ich sag mal, im Privaten, da, wo öffentlich zugängliche Angebote bestehen.
Also, dass man tatsächlich überall auch hin und rein und klarkommt.
Aber auf der anderen Seite ist es auch immer noch so, dass behinderte Menschen, und das ist so ein bisschen historisch geprägt,
auch in Deutschland, ja, traditionell in Sondereinrichtungen leben.
Und das ist ein ganz erheblicher Kritikpunkt, weil wir so am Ende verhindern, dass wir von Anfang an unsere Lebenswelten miteinander teilen.
Das heißt, wir sind nicht in der Kita, in der Schule, miteinander zusammen in der Arbeitswelt.
Und das muss sich dringend ändern.
Bernhard Seiler:
Warum tut sich da offenbar so wenig? Gibt es da Gründe dafür?
Arne Frankenstein:
Ich würde mal ein bisschen weiteren Bogen versuchen. Wir sind ja, wir kommen ja aus einer Zeit, wo Deutschland im Nationalsozialismus behinderte Menschen
systematisch verfolgt, zwangssterilisiert und auch ermordet hat.
Und danach gab es sozusagen den Schritt dahin zu sagen, naja, wir gehen fürsorglich mit behinderten Menschen um.
Wir schaffen da Schutz- und Schonräume.
Und genau, das ist immer noch so sehr in den Köpfen verankert.
Es gab und gibt, wie gesagt, viele große Einrichtungen, die sich um behinderte Menschen kümmern.
Und das ist sicherlich eine so eine Ursache, dass das auch immer noch so in den Köpfen verankert ist.
Und das müssen wir jetzt nach und nach aufbrechen.
Bernhard Seiler:
Also Sonderbehandlung statt Inklusion, das ist so ein bisschen das Problem.
Und Sie treffen sich ja jetzt gerade mit Ihren Kollegen von Bund und den anderen Ländern zur Konferenz.
Und ein wichtiges, ein wesentliches Thema da soll sein Abbau von Sonderstrukturen bei psychiatrischen Versorgungen.
Was ist damit genau gemeint?
Arne Frankenstein:
Genau, wir treffen uns jetzt ganz aktuell.
Heute jährt sich das Inkrafttreten des besonderen Benachteiligungsverbot im Grundgesetz zum 30. Mal. Seit 1994 gibt es dieses Benachteiligungsverbot.
Und wir versuchen, den Bogen zu schlagen von der Verfassung, ich sage mal, zu konkreten Vorhaben und sagen, da muss eben was passieren beim Abbau von Sonderstrukturen.
Und wir zeigen eigentlich über so ein paar Praxisbeispiele, die wir auch in Bremen haben, wie man das machen sollte.
Das eine betrifft den Bereich, wie Menschen wohnen und leben. Da haben wir hier ganz gute Beispiele dafür, wie man ja Heime auflöst und tatsächlich Quartierwohnangebote
für behinderte Menschen auch mit sehr hohen Unterstützungsbedarf schafft.
Und auf der anderen Seite, Sie haben es angesprochen, den Bereich der psychiatrischen Versorgung.
Da ist erstmal sozusagen noch mal ganz deutlich zu sagen, dass Menschen mit psychischen Krisen sehr stark stigmatisiert werden.
Und dass es immer noch so ist, dass eben viel auch im Krankenhaus die Versorgung stattfindet.
Und da müssen wir viel mehr sozusagen im Sozialraum, in der Gemeinde, vor Ort ermöglichen, dass Menschen in psychischen Krisen,
die eben dann auch nach der Definition der Vereinten Nationen eben auch behindert sind, dass die Angebote bekommen, die diese Stigmatisierung auflösen und am Ende auch dazu beitragen,
dass man vor Ort dann gut leben kann.
Bernhard Seiler:
Ich habe schon angesprochen, am Ende dieser Konferenz soll ein Bremer Appell stehen.
Können Sie mir noch kurz sagen, was da drin stehen soll als wesentlicher Punkt?
Arne Frankenstein:
Ja, also Bremer Appell heißt der, weil wir uns ausdrücklich an die Politik noch mal richten, mit dem Appell zu sagen, Inklusion muss ein politischer Handlungsschwerpunkt sein.
Wir müssen dazu kommen, dass Inklusion tatsächlich in dem Sinne, wie ich es gerade skizziert habe, weiterentwickelt wird.
Abbau von Sonderstrukturen insbesondere.
Und machen da eben klar, dass es eben auch ein Verfassungsauftrag ist, die Gesellschaft zu transformieren.
Und dass wir da bei allen Weiterentwicklungen der letzten Jahre auch immer noch am Anfang stehen.
Und wenn Sie mir das als letztes Wort noch erlauben, auch die aktuellen bundespolitischen Entwicklungen, die sind insoweit problematisch, als viele wichtige Vorhaben des Bundestags jetzt auch drohen, auf der Strecke zu verbleiben.
Und da ist unser ausdrücklicher Appell eben auch noch mal zu sagen, das muss besonders prioritär umgesetzt werden, wenn sich der neue Bundestag konstituiert.
Bernhard Seiler:
Sagt Arne Frankenstein, der Landesbehindertenbeauftragte von Bremen.
Vielen Dank fürs Gespräch heute Morgen.
Arne Frankenstein:
Vielen Dank, Herr Seiler.