Die Beauftragten des Bundes und der Länder für die Belange von Menschen mit Behinderungen fordern eine an den Grundrechten und der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ausgerichtete Politik in Deutschland. Der Verfassungsgesetzgeber hat mit der Verankerung des besonderen Benachteiligungsverbots in Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) im Jahr 1994 eine verfassungsrechtliche Lücke geschlossen: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Obgleich Menschen mit Behinderungen im Nationalsozialismus systematisch verfolgt, zwangssterilisiert und ermordet worden sind und das Grundgesetz gerade als Gegenentwurf zu diesem Unrechtsregime konzipiert werden sollte, wurde eine Benachteiligung wegen einer Behinderung nicht mit einem konkreten verfassungsrechtlichen Verbot belegt. Dies war Ausdruck einer historisch gefestigten Diskriminierungskultur gegenüber behindertem Leben, die auch bis heute nicht überwunden ist.
Es ist insbesondere dem Einsatz der Behindertenbewegung zu verdanken, dass das Momentum, das aufgrund der Wiedervereinigung entstand, genutzt wurde, um ein Benachteiligungsverbot in die Verfassung aufzunehmen. Dieses beinhaltet auch positive Maßnahmen, um Gleichbehandlung herzustellen. Damit zielt es auf tatsächliche Gleichberechtigung und auf den Abbau von Barrieren in der sozialen Wirklichkeit.
Durch diese Änderung vollzog sich eine Hinwendung des Staates von der Fürsorge zu einer rechtebasierten Inklusionspolitik, die mit dem Inkrafttreten der UN-BRK in
Deutschland weiter konkretisiert und im Hinblick auf die Anforderungen an die Weiterentwicklung einer inklusiven Gesellschaft verstärkt worden ist.
Auf dieser Grundlage hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Rechte von Menschen mit Behinderungen weiter ausgestaltet. Schon seit 50 Jahren leitet das Bundesverfassungsgericht konkrete Schutzpflichten des Staates aus den Grundrechten ab, anfangs vor allem aus Artikel 2 Absatz 2 GG, dem Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person, dann zunehmend auch aus weiteren Grundrechten. 2021 hat das Gericht mit der Triage-Entscheidung diese etablierte Spruchpraxis zur Herleitung von Schutzpflichten für den besonderen Gleichheitssatz des Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG ausbuchstabiert: Bei der Zuteilung knapper, überlebenswichtiger intensivmedizinischer Ressourcen darf kein Mensch wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Der Staat hat Menschen wirksam vor einer Benachteiligung, auch durch Dritte, zu schützen. Die Entscheidung verdeutlicht, dass sich auch aus dem besonderen Benachteiligungsverbot ein Schutzauftrag ableiten lässt, und sich daraus konkrete Handlungspflichten des Staates ergeben können. Sie sind auch aus Situationen struktureller Ungleichheit herzuleiten, wenn diese Benachteiligungen bewirken. Hieran zeigt sich das Potenzial der Verfassung, die hiernach im Lichte der UN-BRK auch den Abbau von Sonderstrukturen justiziabel machen kann.
Trotz der verfassungsrechtlichen Gewährleistung und der Weiterentwicklung in der Rechtsprechung stellen die Beauftragten fest, dass Menschen mit Behinderungen weiterhin strukturell benachteiligt werden und tiefsitzende, bewusste und auch unbewusste Vorurteile der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderungen fortbestehen und einen konsequenten Paradigmenwechsel verhindern. Um die Transformation in eine inklusive Gesellschaft mit Nachdruck und im Sinne des verfassungs- und menschenrechtlichen Auftrags zu gestalten, fordern die Beauftragten:
Bund, Länder und Kommunen müssen Inklusion als Handlungsmaxime in allen Politikfeldern verfolgen und hierfür die erforderlichen Haushaltsmittel bereitstellen. Das erhebliche Umsetzungsdefizit, das der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen Deutschland als Ergebnis der 2. und 3. Staatenprüfung im Jahr 2023 bescheinigt hat, verdichtet sich durch die verfassungsrechtlichen Vorgaben von Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG zu einem unmittelbaren Handlungsauftrag.
Die Weiterentwicklung des Antidiskriminierungsrechts muss auf Grundlage des verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbots und der UN-BRK gestaltet werden. Die Behindertengleichstellungsgesetze des Bundes und der Länder sowie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz müssen reformiert und aufeinander abgestimmt werden und einen umfassenden
Schutz vor Benachteiligung bieten. Die Verpflichtung zur Herstellung von Barrierefreiheit und die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen durch private Rechtsträger und öffentliche Stellen müssen umfassend sichergestellt werden. Der Schutz vor Benachteiligung muss zudem auf alle der Allgemeinheit zugänglichen Angebote erweitert werden.
Bund und Länder müssen Maßnahmen treffen, um die Rechtsdurchsetzung zu stärken und den Rechtsschutz effektiver zu machen. Neben der Erweiterung von Klagemöglichkeiten müssen insbesondere die Möglichkeiten von Verbandsschlichtungs- und Verbandsklageverfahren erweitert werden. Gerichtlicher Rechtsschutz, der neben der Feststellung der Rechtswidrigkeit von Maßnahmen auch Leistungsklagen ermöglicht, muss gerichtskostenfrei gesucht werden können. Zudem müssen Rechtsmittelfonds eingerichtet werden, um den Zugang zu rechtlicher Kontrolle und Durchsetzung zu stärken.
Bund, Länder und Kommunen müssen Sonderstrukturen konsequent und flächendeckend zugunsten inklusiver Lösungen schrittweise abbauen. Hierzu müssen sie überprüfbare Maßnahmen- und Zeitpläne entwickeln. Nur so können die verfestigten Strukturen von systemischer Benachteiligung und die aus ihnen folgenden Exklusionsketten, z.B. von der Förderschule in die Werkstatt für behinderte Menschen, durchbrochen werden.
Bund, Länder und Kommunen müssen deutschlandweit gezielte Projekte der Stadt- und Quartiersentwicklung mit dem Ziel aufsetzen, die Unterstützung von Menschen mit Behinderungen unabhängig von Art und Schwere ihrer Behinderung wohnortnah sicherstellen. Um dies zu gewährleisten, fordern die Beauftragten die sukzessive Umwandlung von besonderen Wohnangeboten in ambulante Wohnangebote.
Bund, Länder und Kommunen müssen die psychiatrische Versorgung deutschlandweit so weiterentwickeln, dass diese wohnortnah und ohne die Anwendung von Zwang erbracht werden kann. Hierzu fordern die Beauftragten die Entwicklung von konkreten Reformschritten in landesweiten Psychiatrie- und Suchthilfeplänen. Diese müssen unter Federführung der zuständigen Gesundheitsministerien das Ziel verfolgen, die Sektorengrenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung zu überwinden. Das Ziel muss sein,
Menschen in psychischen Krisen personenzentriert und bedarfsgerecht im Sozialraum zu versorgen.
Vor dem Hintergrund der aktuellen bundespolitischen Entwicklungen fordern die Beauftragten von der neuen Bundesregierung und dem Parlament, dass die inklusionspolitischen Vorhaben aus der 20. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages (insbesondere das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das Behindertengleichstellungsgesetz, das Kinder- und Jugendhilfeinklusionsgesetz sowie die Reform des Werkstattrechts) besonders prioritär umgesetzt werden.