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Zwölf Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention erwarten die Beauftragten den Auf- und Ausbau eines Berufsbildungssystems, das in seinen Rahmensetzungen die Vielfalt von Menschen und ihre Potenziale als Chance in der Berufswelt berücksichtigt. Oft genug werden junge Menschen mit Behinderungen in bestimmte Berufe und Maßnahmen gedrängt, die angeblich für sie besonders geeignet sind. Ein wirkliches Wahlrecht besteht nicht. Jeder Mensch hat Fähigkeiten. Die Ressourcen der Menschen mit Behinderungen sollen bei der beruflichen Bildung im Vordergrund stehen. Inklusive berufliche Bildung umfasst die Gestaltung der Bedingungen für Zugang, Verlauf und Abschluss beruflicher Bildungsgänge. Dazu braucht es die Durchlässigkeit zwischen verschiedenen Bildungssystemen. Ziel beruflicher Aus-, Fort- und Weiterbildung müssen barrierefreie und gleichberechtigte Gestaltungsmöglichkeiten der individuellen Bildungs- und Berufsbiographien sein, die das Wunsch- und Wahlrecht berücksichtigen. Hierzu gehört die Bereitstellung einer Berufsvielfalt ebenso wie die Herstellung von Grundlagen für den Zugang zum und Verbleib im allgemeinen Arbeitsmarkt.
Die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern fordern deshalb:
Ausbildung und berufliche Bildung für junge Menschen mit Behinderungen finden zu einem Großteil noch immer in außerbetrieblichen Bildungsstätten wie Berufsbildungswerken oder außerhalb des allgemeinen Arbeitsmarktes in den Werkstätten für behinderte Menschen statt. Eine inklusive Arbeitswelt braucht Ausbildung und berufliche Bildung in den regulären Betrieben. Die Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarktes müssen besser unterstützt werden, jungen Menschen mit Behinderungen eine berufliche Chance zu geben. Zur Überwindung von Sonderwelten sollten die persönlichen Budgets für Qualifizierung alternativ zum Eingangs- und Bildungsbereich in den Werkstätten für behinderte Menschen, das Budget für Ausbildung und Arbeitsassistenz vorrangig von den Kostenträgern angeboten werden. Wir fordern die deutliche Erhöhung der Ausgleichsabgabe besonders für die beschäftigungspflichtigen Betriebe, die bisher keine Menschen mit Behinderungen beschäftigen. Die Betriebe, die Ausbildung und Berufseinstieg für junge Menschen mit Behinderungen gut ermöglichen, sollen bei Förderungen und der Berechnung der Beschäftigungsquote besser gestellt werden.
Eine Grundvoraussetzung für Inklusion in der beruflichen Bildung ist die barrierefreie Gestaltung der Lernumgebung. Die Forderung schließt zum einen bauliche Anpassungen zum Abbau physischer Barrieren als auch die Nachrüstung mit Blindenleitsystemen, Induktionsschleifen, barrierefreien Sanitäranlagen sowie Schaffung reizarmer Räume und weiterer Maßnahmen zum Abbau von Barrieren ein. Die Bereitstellung assistiver Technologien in Form von technischen Hilfsmitteln für die Nutzung von Computern, z. B. Braillezeilen und Screenreader ist ebenso zu fördern wie die Entwicklung und Anwendung von Konzepten nach dem Zwei-Sinne-Prinzip, indem Informationen akustisch und visuell oder taktil angeboten werden. Barrierefreie Gestaltung muss sich auch für Schülerinnen und Schüler sowie Auszubildende mit psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen öffnen. Das Berufsbildungsgesetz und die Handwerksordnung bieten bereits inklusionsorientierte Rechtsgrundlagen für die duale Ausbildung von Menschen mit Behinderungen und sie enthalten den Auftrag zur Anwendung von Nachteilsausgleichen für den Unterricht und bei Prüfungen. Deshalb sollte auch ein zieldifferenzierter (das Lernziel wird individuell festgelegt) Unterricht in einigen Berufsbildern an Berufsschulen möglich werden. Bereits vorhandene zieldifferenzierte Maßnahmen im Bereich der beruflichen Bildung sollen weiter ausgebaut werden.
Die Unterstützung durch technische Hilfsmittel und/oder Assistenz in den Phasen der Praktika und bei Aufnahme der Ausbildung müssen schnell verfügbar sein. Dazu sind notwendige Hilfsmittel kurzfristig zu genehmigen und/oder aus einem Pool zur Verfügung zu stellen. An fehlenden Genehmigungen für Assistenzleistungen darf kein Praktikumsplatz oder der Ausbildungs-/Studienerfolg scheitern.
Die individuellen Nachteilsaugleiche können sehr vielfältig sein und sind behinderungsangepasst auszulegen. Dies gilt auch, wenn eine Person mehrere Behinderungsformen hat, die zu einem komplexen Bedarf an Nachteilsausgleichen führen können. Für die Praxis bedeutet dies, dass die Prüfungsordnungen aller Ausbildungsberufe und beruflicher Studiengänge unter Berücksichtigung von Art. 24 (Bildung) und 27 (Arbeit und Beschäftigung) UN-BRK novelliert werden müssen. Hierbei kann das Handbuch „Nachteilsausgleich für behinderte Auszubildende“ des Bundesinstituts für Berufsbildung Orientierung geben.
Eine wesentliche Voraussetzung für gelingende Lehr-Arrangements sind die Lehrkräfte. Diese verfügen überwiegend über eine Fachausbildung, ein Fachstudium oder eine Meisterausbildung. Eine spezifische Qualifikation im Bereich der Sonderpädagogik wird i. d. R. nicht vorausgesetzt. Lediglich Aus- und Weiterbildungen zum Erwerb allgemeiner didaktisch-methodischer Handlungskompetenz werden zur Qualifizierung und Professionalisierung angeboten und durchgeführt. Ergänzend müssen verpflichtende, systematische Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebote eingeführt werden. Konzepte für diese Qualifizierung des fachlichen Lehrpersonals sollen die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten zur Unterstützung mittels Nachteilsausgleichen und Befähigung von Menschen mit Behinderungen enthalten.
Die Berufs- und Studienberatung soll junge Menschen und Erwachsene entsprechend ihren Fähigkeiten, Interessen und Persönlichkeitseigenschaften professionell unterstützen. Bei Menschen mit Behinderungen erfolgt die Beratung jedoch vielfach eher mit Blick auf die vermeintlichen Einschränkungen. Erforderlich ist eine interessens- und potenzialorientierte Berufs- und Studienberatung für einen qualitativen Ausbau im Übergang Schule-Beruf für Menschen mit Behinderungen. Dabei ist der Übergang als ein zusammenhängender Bildungsprozess aufzufassen. Notwendig ist eine konstante personelle Bildungsbegleitung, die den gesamten Prozess der beruflichen Bildung und Qualifizierung umfasst und bereits frühzeitig vor dem Ende der Schulpflicht einsetzt. Ziel sollte dabei der Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt sein. Bei Ausbildungen muss zur betrieblichen Ausbildung ermutigt und Wege zur Gestaltung der Rahmenbedingungen aufgezeigt werden.
Auch für eine erfolgreiche Rehabilitation ist eine gute Beratung erforderlich.
An die Beraterinnen und Berater bei den Reha-Trägern wie auch bei den EUTB (Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung) werden hohe Anforderungen gestellt: Neben Fachwissen z.B. über das Leistungsrecht, über die Vorschriften des Bundesteilhabegesetzes oder die Besonderheiten von Behinderungen, benötigen sie ebenso Kommunikations-, Sozial- sowie Organisationskompetenz. Fort- und Weiterbildungen der Fachkräfte spielen deshalb eine wichtige Rolle. Entsprechend werden Qualifizierungsangebote zu trägerübergreifenden Themenstellungen für Beraterinnen und Berater bei den Reha-Trägern gefordert.
Übergänge sind deutlich stärker als bisher individuell interessens- und fähigkeitsorientiert am einzelnen Jugendlichen zu gestalten. Ein Bestandteil erfolgreicher Berufsbildung ist die Konzeptionierung theoretischer und praktischer Module, die neben den fachpraktischen Kenntnissen bildungsübergreifende Kompetenzzuschreibungen abbilden, in ihrer Wertigkeit vergleichbar sind und möglichst aufeinander aufbauen. Dies gilt auch für die Berufsbildungsbereiche der Werkstätten für behinderte Menschen. Die Beauftragten fordern die Entwicklung und Anerkennung von Modulen, um Zu- und Übergänge zwischen den Werkstätten (WfbM) und dem allgemeinen Arbeitsmarkt endlich zu ermöglichen. Weiterhin sollten die allgemeinen Berufsschulen als Kann-Leistung geöffnet werden für Beschäftigte aus dem Berufsbildungsbereich der WfbM. Das am 01.01.2020 eingeführte Budget für Ausbildung ist hier bereits ein wichtiger Schritt, allerdings nicht für jeden Rehabilitanden im Berufsbildungsbereich das richtige Instrument. Deshalb muss es weitere Inklusionsbausteine im Berufsbildungsbereich der Werkstätten geben. Geeignete Maßnahmen zum Schutz vor Diskriminierung sind im Konzept zu berücksichtigen und anzubieten.
Das Berufsbildungsgesetz (§ 66 BBiG) bzw. die Handwerksordnung (§ 42m HwO) sehen besondere Ausbildungsregelungen im Bereich der beruflichen Bildung vor. Ziel der Regelung ist die Fokussierung auf fachpraktische Inhalte bei gleichzeitiger Reduzierung der fachtheoretischen Ausbildung in Abhängigkeit der individuellen Art der Behinderung. Problematisch können die Regelungen aufgrund ihrer unübersichtlichen Variationen an Einzelregelungen sein, da die Fachpraktiker-Abschlüsse hinsichtlich ihrer fehlenden Standardisierung vielfach beruflich weniger anerkannt sind. Erforderlich ist eine weitergehende Standardisierung der fachpraktischen Berufsausbildungen über duale Ausbildungsformate. Hier wäre eine Beschleunigung wünschenswert sowie eine erhöhte Durchlässigkeit in Form von Anerkennung von Ausbildungsleistungen im Übergang in eine Vollausbildung.
Erfolgt eine Fachpraktiker-Ausbildung (theoriereduziert) im Rahmen der Regelungen nach dem BBiG oder der HwO, ist für die Durchführung grundsätzlich eine rehabilitationspädagogische Zusatzqualifikation (ReZA) der Ausbilderinnen und Ausbilder im Umfang von 320 Stunden erforderlich.
Die mit dieser Weiterbildung verbundene und grundsätzlich zu begrüßende Professionalisierung soll die Qualität der Ausbildung von Menschen mit Behinderungen sichern. In der Praxis stellt diese sehr zeitintensive Zusatzausbildung jedoch eine sehr hohe Hürde für die Unternehmen dar und wird somit zu oft als Hindernis für die Ausbildung von Menschen mit Behinderungen in betrieblichen Ausbildungsstätten. Die Beauftragten fordern eine niedrigschwellige Unterstützung und keine Erschwernisse der Betriebe, um junge Menschen mit Behinderungen auszubilden. Notwendig ist daher eine umfassende Evaluation der derzeitigen Regelungen. Zielführend wäre es zudem, grundsätzliche Ausbildungsinhalte der ReZA im Rahmen eines inklusiv gestalteteten Berufsbildungssystems in den Rahmenplan für die allgemeine Qualifikation zur Ausbilderin oder zum Ausbilder zu übernehmen.
Barrieren für einen Ausbildungsbeginn auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind neben Unkenntnis auch Unsicherheiten und Vorurteile in Betrieben und Unternehmen. Der immer noch anzutreffenden Gleichsetzung einer Behinderung mit einer Leistungseinschränkung sollte aktiv durch verstärkte Beratungsangebote entgegengewirkt werden. Politik und Verwaltung sollten Strategien und Konzepte entwickeln, die zum einen Unternehmen und Betriebe für die Kompetenzen von Menschen mit Behinderungen gewinnen. Zum anderen gilt es, bestehende Unterstützungs- und Beratungsangebote für Unternehmen und Betriebe bekannter zu machen, praxisnah weiterzuentwickeln und bürokratische Hürden abzubauen. Hierbei ist die Zusammenarbeit der Schwerbehindertenvertreter (§ 178 SGB IX) oder der Interessenvertreter (§ 176 SGB IX) gemeinsam mit dem Arbeitgeber, Integrationsamt, Integrationsfachdienst, Reha-Träger und der EUTB von großer Bedeutung. In diesem Zusammenhang sollte es eine einheitliche Ansprechstelle für Arbeitgeber geben, die Beratung und Unterstützung aus einer Hand bietet.
Die Digitalisierung der Arbeitswelt kann durch die Vernetzung von Mensch und Maschine und die Barrierefreiheit aller Softwareprodukte die Chance bieten, Arbeitsplätze auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen adäquat auszurichten und mit Hilfe technischer Infrastruktur barrierefrei einzurichten. Der Strukturwandel 4.0 muss systematisch genutzt werden,
um die Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt und insbesondere für berufliche Bildung für Menschen mit Behinderungen deutlich zu verbessern. Gegebenfalls sind Förderprogramme zur Entwicklung entsprechender Softwareprodukte aufzulegen. Dabei sind die Menschen mit Behinderungen und ihre Interessensvertretungen einzubeziehen.
Die Covid 19 Pandemie stellt den Arbeitsmarkt vor große Herausforderungen, besonders im Hinblick auf die Gewinnung von Ausbildungsplätzen. Dies erschwert insbesondere auch den Übergang von Menschen mit Behinderungen in die berufliche Bildung. Angebote der Berufs- und Studienorientierung und praktische Erprobungen finden nicht oder nur sehr eingeschränkt statt. Sie sind in vielen Fällen aber notwendig, um eine individuell passende berufliche Tätigkeit und Arbeitsumgebung zu finden. Auch die teils erheblichen wirtschaftlichen Einbrüche der Inklusionsfirmen haben Folgen für den Beschäftigungseinstieg der jungen Menschen. Es bedarf tragfähiger und nachhaltiger Werkzeuge und Maßnahmen, um die steigende Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen zu verhindern bzw. abzubauen, berufliche Bildung zu sichern sowie der Entwicklung von Konzepten für den Einstieg in den allgemeinen Arbeitsmarkt.