Gemeinsam mit dem Martinsclub hat Joachim Steinbrück sich am 10. April auf dem Weg nach Südtirol gemacht. Im Rahmen einer Studienreise hat die zehnköpfige Gruppe die Inklusion in Bozen und umzu näher kennen gelernt und Impulse für das Land Bremen mitgenommen. Um den Daheimgebliebenen einen guten Eindruck über die Reise zu geben, führte der Beauftragte über die Erlebnisse in der nördlichsten Provinz Italiens Tagebuch.
Dass die Studienfahrt des Martinsclubs "Von den Anderen lernen" keine Vergnügungsfahrt werden würde, war mir zwar schon vor ihrem Antritt klar. Aber dass wir um 6 Uhr frühstücken würden, um mit dem Bus um 6:45 Uhr ins Vinschgau fahren zu können, war mir nicht so klar.
Ich bin neugierig auf Südtirol. Mich interessiert, wie die Sozialgenossenschaft Arbeitsplätze für behinderte Menschen schafft, ob es "echte Arbeitsplätze" auf dem ersten Arbeitsmarkt sind oder solche, die denjenigen von Werkstattbeschäftigten ähneln. Und wie organisiert die Integrierte Volkshochschule Vinschgau ihre Angebote, so dass sie auch von behinderten Menschen wahrgenommen werden können?
Und nach der bildungspolitisch intensiven vergangenen Woche bin ich auch neugierig darauf, wie in Südtirol der gemeinsame Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Beeinträchtigung gestaltet wird. Schließlich werden in ganz Italien und damit auch in Südtirol behinderte und nicht behinderte Schülerinnen und Schüler seit Ende der siebziger Jahre gemeinsam unterrichtet.
In Bremen wurde am vergangenen Freitag die Zuweisungsrichtlinie in der Deputation für Kinder und Bildung erörtert. Aus dieser Richtlinie ergibt sich, wie viele Lehrerstunden das Land Bremen - bezogen auf eine Klasse - für die sonderpädagogische Förderung zur Verfügung stellen will. Spannend ist vor diesem Hintergrund, zu erfahren, wie viele Ressourcen die Autonome Region Südtirol hierfür zur Verfügung stellt.
Ja, ich möchte wissen, wie andere Länder und Regionen ihre Praxis der Inklusion gestalten, und ich möchte von ihnen lernen.
Grüße aus dem frühlingshaften Südtirol
Tatsächlich fuhren wir heute morgen kurz vor sieben Uhr mit unserem Bus in Bozen ab und erreichten Mals im Vinschgau gegen 08:30 Uhr. Und so früh wie heute habe ich noch nie ein Geburtstagsständchen gesungen. Als Olli aus Hamburg kurz nach sechs Uhr den Frühstücksraum betrat, sangen wir - wenn auch noch etwas zurückhaltend - "Happy Birthday" für ihn; er ist heute vierzig geworden, was ihn nicht davon abgehalten hat, mit uns hierher zu fahren. Olli arbeitet in Hamburg bei einem freien Träger, einer Tochtergesellschaft der Stiftung Alsterdorf und kooperiert an einer Hamburger Stadteilschule mit Christian, der ebenfalls an unserer Studienfahrt teilnimmt und Sonderpädagoge ist. Ollis Chefin ist auch dabei. Das Konzept, nach dem sie arbeiten, könnte auch für Bremen interessant sein: Sie arbeiten mit Schülern und einer Schülerin mit dem Förderbedarf emotional-soziale Entwicklung in einer integrierten Lerngruppe. Als sie mir dieses Konzept schilderten, fragte ich mich gleich, ob dieses auch in Bremen angewendet wird oder werden soll. Schließlich hat das Bildungsressort den Auftrag, Konzepte für die Schülergruppe mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf sozial-emotionale Entwicklung, auch als Alternative zur Aussonderung dieser Schüler in das Förderzentrum Fritz-Gansberg-Straße, zu entwickeln. Dem Sprecher der Deputation für Kinder und Bildung sowie dem Bildungsressort werde ich nach meiner Rückkehr nach Bremen vorschlagen, dieses Thema bald möglichst im Ausschuss Inklusion und sonderpädagogische Förderung zu behandeln.
Aber heute Stand natürlich die Entwicklung hier in Südtirol im Mittelpunkt: Und nach dem langen Tag - wir waren mit dem Bus erst gegen 21:15 Uhr wieder in Bozen - schwirrt mir doch etwas der Kopf. In Mals wurden uns heute gleich drei Projekte vorgestellt und wir konnten am Nachmittag eine Stadtführung von Martin und Evelin, die beide ein Handicap haben, in Gluns bei schönstem Frühlingswetter genießen. Aber der Reihe nach und in aller Kürze, schließlich bin ich müde:
In Italien sind sog. Sozialgenossenschaften weit verbreitet, die - wie der Name ja bereits verrät - Aufgaben im sozialen Bereich, insbesondere auch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen für benachteiligte Gruppen übernehmen. Es gibt Sozialgenossenschaften des Typs A und des Typs B, wobei ich den Unterschied noch nicht genau verstanden habe.
Die vinschgauer Sozialgenossenschaft hat im Winschgau, das im Nordwesten Südtirols und damit im Drei-Länder-Eck Italien, Österreich und Schweiz liegt, einen Betrieb mit inzwischen mehr als dreißig Beschäftigten gegründet. Das Tätigkeitsfeld erstreckt sich auf die Verwaltung eines Internats mit sechzig SchülerInnen (Betrieb der Essensversorgung etc). In Mals gibt es - wie wir in Deutschland sagen würden - ein Leistungszentrum für Wintersport. Die SchülerInnen der Oberschule trainieren im Leistungszentrum und besuchen gleichzeitig die Schule.
Besonders interessant war für mich der Hinweis, dass Betriebe, die eine behinderte Person beschäftigen, für diese keine Sozialabgaben abführen muss. Dies gilt auch für Sozialgenossenschaften. Dies bietet - wie uns vom Verwaltungsratsvorsitzenden der vinschgauer Genossenschaft erläutert wurde - einen wirtschaftlichen Anreiz zur Beschäftigung. Gleichzeitig ist in Südtirol geregelt, dass Aufträge bis zu einer Höhe von 200.000 Euro ohne Ausschreibung vom Land und den Kommunen an Sozialgenossenschaften vergeben werden können. Das Land habe sich darüber hinaus verpflichtet, fünf Prozent seiner Aufträge an Sozialgenossenschaften zu vergeben. Aktuell werde diskutiert, dass dies auch für die Kommunen gelten solle. Die Beschäftigten der Sozialgenossenschaften des Typs A hätten reguläre Arbeitsverträge und auch durch Kollektivverträge abgesicherte Arbeitsverhältnisse. Daneben gebe es in Italien noch Einrichtungen, die mit unseren Tagesstätten vergleichbar seien.
Weiter wurde uns das Konzept der Integrierten Volkshochschule im Winschgau vorgestellt, die in den verschiedenen Ortschaften des Winschgaus einen Einzugsbereich von ca. 35.000 Einwohnern habe. Inzwischen würden etwa 48 Prozent der Kurse von behinderten und nicht behinderten Menschen gemeinsam besucht. Das Programm erscheine auch in Leichter Sprache. Es gebe auch einige wenige Kurse, in denen behinderte Teilnehmerinnen und Teilnehmer "unter sich" seien. Dies beruhe darauf, dass sie sich dies gewünscht hätten. Aus einem der Kurse sei die Idee entstanden, dass in Gluns von Evelin und Martin, die beide ein Handicap haben, Stadtführungen für Kinder und Erwachsene durchgeführt werden könnten. In dem Kurs hätten sich beide sehr an kulturellen Themen und der Geschichte von Gluns interessiert gezeigt, und so sei die Idee der Stadtführungen entwickelt worden. Beide würden diese gegen Honorar machen.
Schließlich wurde uns noch das Modell zur Assistenz von älteren und behinderten Menschen in Stilfs, einem Dorf mit ca. 1.000 Einwohnern, vorgestellt. Die Besonderheit dieses Dorfes bestehe darin, dass dort tagsüber kaum jüngere Menschen seien, weil diese in größeren Orten in der Nachbarschaft arbeiten würden. Ältere und auch behinderte Personen würden aber für Begleitungen, Besorgungen und im Haushalt z.B. beim Putzen oder Kochen Unterstützung benötigen. Diese würde durch die Genossenschaft mit Helferinnen aus dem Dorf organisiert, die reguläre Arbeitsverträge, allerdings mit geringen Arbeitszeiten, hätten. Pro Person würden auch nur zehn Stunden Assistenz pro Woche zur Verfügung gestellt, was aber im Allgemeinen in Stilfs ausreiche, weil die Assistenz eine Ergänzung zur professionellen Pflege sei.
Spannend war hier die Aussage eines Vertreters der Sozialgenossenschaft, dass es sinnvoller sei, Sozialbudgets zu haben, die einer Gemeinde oder einer Stadt bzw. einem Stadtteil zur Verfügung gestellt werden, um soziale Aufgaben wie z.B. die Organisation von Assistenz zu erfüllen als die Leistung einzelnen Personen zuzuordnen. Ein Aspekt über den genauer nachzudenken sicherlich lohnenswert ist.
Am Rande erfuhren wir noch, dass in Südtirol inzwischen auch in zahlreichen öffentlichen älteren Gebäuden Barrieren abgebaut worden seien. Es gebe ein Gesetz, dass auch für Bestandsbauten die Reduzierung von Barrieren vorschreibt. Mir wurde zugesagt, mir dieses Gesetz zuzumailen. Eine Regelung, die sich auf Barrierefreiheit auch für Bestandsbauten bezieht, ist auch für uns in Bremen interessant: Das Bremische Behindertengleichstellungsgesetz soll bekanntlich in den nächsten Monaten überarbeitet werden. Hiermit hat sich ja eine Arbeitsgruppe des Landesteilhabebeirats beschäftigt. Bei der Überarbeitung unseres Behindertengleichstellungsgesetzes wird es auch um die Frage gehen, ob es eine Vorschrift geben wird, die den Abbau von Barrieren auch in Bestandsbauten vorschreibt. In der Diskussion um diesen Punkt kann uns eine entsprechende gesetzliche Regelung helfen.
Die Führung am Nachmittag in Gluns mit Martin und Evelin bei schönstem Sonnenwetter und mit leckerem Eis als Nachspeise war sehr schön:
Beide verschafften uns einen Einblick in die Geschichte von Gluns und einen Überblick über die kleinste Stadt Italiens mit nur etwas mehr als 900 Bewohnern. Die alte Stadtmauer, die zehn Meter hoch ist, ist komplett erhalten ebenso wie die Wassermühle mit ihrem hölzernen Wasserrad. Und vor mehreren hundert Jahren soll die Stadt wegen einer Mäuseplage die Mäuse in einem Gerichtsverfahren dazu verurteilt haben, die Stadt zu verlassen. Ganz scheint dies aber nicht befolgt worden zu sein, denn es gibt noch Schoko-Mäuse, Mäuse aus Ton und hölzerne Mäuse, die wir in zwei Gruppen aufgeteilt suchen mussten. Die Gruppe mit den meisten gefundenen Holzmäusen war Siegerin und wurde mit Schoko-Mäusen belohnt. Nur ging leider eine der Holzmäuse bei der Aktion verloren, was die dicke Katze, die unseren Weg bei der Wassermühle kreuzte, gerade als im Stall ein Hammel blökte, dem Verdacht aussetzte, für das Verschwinden der Maus verantwortlich zu sein.
Beim gemeinsamen Abendessen erhielten wir dann zum Abschied das Rolli Road Book in die Hand gedrückt, das eine Reihe von Rolli-Wanderrouten in den Bergen beschreibt. Bei der Überreichung des Road Books dachte ich: "Es lohnt sich sicherlich, das Portal Südtirol barrierefrei einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Hier tut sich doch eine ganze Menge und wir können hier auch einiges lernen."
Jetzt geht die Studienfahrt schon wieder zu Ende; morgen Vormittag um 09:00 Uhr holt uns der Bus nach Mailand bei unserer Unterkunft ab.
Heute war wieder ein interessanter und informativer Tag, der mit der Abfahrt unseres Busses um 07:45 Uhr zum Oberschulzentrum in Mals begann und um 17:00 Uhr beim Deutschen Schulamt in Bozen endete. Ja, es ist kaum zu glauben, aber hier in Südtirol gibt es für jede der drei Sprachen der autonomen Provinz ein Schulamt, das heißt neben dem deutschen auch ein italienisches und ein ladinisches.
Der heutige Tag war wieder recht anstrengend. Daher möchte ich jetzt nur die wichtigsten Erkenntnisse stichwortartig festhalten:
Im Oberschulzentrum Mals gibt es nicht wie etwa an Bremens Schulen häufig vertreten Schwerpunktklassen, in denen die Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf gruppenweise zusammengefasst werden, und zwar in sogenannten Inklusionsklassen. In der Schule in Mals werden diese Schülerinnen und Schüler vielmehr möglichst gleichmäßig auf die Klassen verteilt, um gerade keine Konzentration der Kinder und Jugendlichen einer Schulklasse zu haben.
Die Spezialisierung von Lehrkräften auf bestimmte Förderbereiche wie zum Beispiel sozial-emotionale Entwicklung wurde in unseren Gesprächen durchaus kritisch gesehen. So wurde darauf hingewiesen, dass bei "Speziallehrkräften" die übrigen Lehrkräfte die Verantwortung für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf an die Spezialisten abgeben könnten und sich selbst gar nicht mehr in der Verantwortung sehen würden. Inklusion bedeute, dass sich alle Lehrkräfte für alle Schüler verantwortlich halten würden.
Auch heute erhielten wir wieder eine Fülle von Informationen, die ich noch systematisch auswerten werde. Festzuhalten ist aber bereits, dass die Unterrichtsverpflichtung der Lehrkräfte deutlich geringer als in Deutschland ist. Auch sind die Klassen wesentlich kleiner und die Zahl der Vertretungskräfte, die vorgehalten werden, wiederum deutlich höher als bei uns.
Die Reise wird von mir in den nächsten Tagen noch weiter ausgewertet. Das Ergebnis werde ich auf meiner Internetseite veröffentlichen.
Doch jetzt steht zunächst einmal unsere Rückreise nach Bremen an ...
Mit vielen Informationen und neuen Eindrücken sind wir heute von unserer Studienreise "Von den Anderen lernen" aus Südtirol zurückgekehrt.
Wir waren – wie eine Teilnehmerin der Studienreise es formulierte – "eine gute Truppe." Wir haben uns gut verstanden und auch untereinander intensiv ausgetauscht. Und es gab viele Informationen, die wir miteinander austauschen konnten, waren in unserer Gruppe doch vier Bundesländer und unterschiedliche Perspektiven auf das Thema "Inklusion" vertreten. Das Spektrum reichte von dem Vater eines behinderten Jugendlichen aus Rheinland-Pfalz und der Schulassistentin dieses Jugendlichen bis hin zu dem Leiter einer Förderschule "Lernen und Sprache" in Niedersachsen, die auch den Einsatz von Förderlehrkräften in den allgemeinen Schulen koordiniert. Vertreten waren auch zwei leitende Mitarbeiterinnen des Martinsclubs, die für den Bildungsbereich sowie die Schulassistenzen zuständig sind, ein Team aus Hamburg, dass dort nach dem Konzept der integrierten Lerngruppe nach Ulrike Becker mit Schülern und einer Schülerin mit dem Förderschwerpunkt sozial-emotionale Entwicklung arbeitet, und ein leitender Mitarbeiter des IFD Bremen, der den Übergang von behinderten Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt begleitet und Unterstützt.
Es waren also nicht nur Informationen und Anregungen aus Südtirol, mit denen wir uns beschäftigten, sondern auch solche aus Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz.
Wir wollen untereinander in Kontakt bleiben. Und es wird bald möglichst ein Nachtreffen geben, darüber waren wir uns schnell einig.
Was waren für mich die wichtigsten Eindrücke und Erfahrungen während dieser Studienreise?
Der nächste Schritt ist es nun, zu klären, ob und inwieweit die Konzepte und Erfahrungen aus Südtirol auf Deutschland und Bremen übertragen werden können. So ist es aus meiner Sicht denkbar, dass die Reinigung von Schulen an einen Integrationsbetrieb im Sinne des SGB IX vergeben wird, der zu 25 bis 50 Prozent auch schwerbehinderte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit regulären Arbeitsverträgen beschäftigt.
Wie dieses Beispiel zeigt, war die Studienreise nach Südtirol inspirierend, und es gilt jetzt, die neu gewonnenen Erkenntnisse auf die Bedingungen hier in Bremen herunter zu brechen.