Tatsächlich fuhren wir heute morgen kurz vor sieben Uhr mit unserem Bus in Bozen ab und erreichten Mals im Vinschgau gegen 08:30 Uhr. Und so früh wie heute habe ich noch nie ein Geburtstagsständchen gesungen. Als Olli aus Hamburg kurz nach sechs Uhr den Frühstücksraum betrat, sangen wir - wenn auch noch etwas zurückhaltend - "Happy Birthday" für ihn; er ist heute vierzig geworden, was ihn nicht davon abgehalten hat, mit uns hierher zu fahren. Olli arbeitet in Hamburg bei einem freien Träger, einer Tochtergesellschaft der Stiftung Alsterdorf und kooperiert an einer Hamburger Stadteilschule mit Christian, der ebenfalls an unserer Studienfahrt teilnimmt und Sonderpädagoge ist. Ollis Chefin ist auch dabei. Das Konzept, nach dem sie arbeiten, könnte auch für Bremen interessant sein: Sie arbeiten mit Schülern und einer Schülerin mit dem Förderbedarf emotional-soziale Entwicklung in einer integrierten Lerngruppe. Als sie mir dieses Konzept schilderten, fragte ich mich gleich, ob dieses auch in Bremen angewendet wird oder werden soll. Schließlich hat das Bildungsressort den Auftrag, Konzepte für die Schülergruppe mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf sozial-emotionale Entwicklung, auch als Alternative zur Aussonderung dieser Schüler in das Förderzentrum Fritz-Gansberg-Straße, zu entwickeln. Dem Sprecher der Deputation für Kinder und Bildung sowie dem Bildungsressort werde ich nach meiner Rückkehr nach Bremen vorschlagen, dieses Thema bald möglichst im Ausschuss Inklusion und sonderpädagogische Förderung zu behandeln.
Aber heute Stand natürlich die Entwicklung hier in Südtirol im Mittelpunkt: Und nach dem langen Tag - wir waren mit dem Bus erst gegen 21:15 Uhr wieder in Bozen - schwirrt mir doch etwas der Kopf. In Mals wurden uns heute gleich drei Projekte vorgestellt und wir konnten am Nachmittag eine Stadtführung von Martin und Evelin, die beide ein Handicap haben, in Gluns bei schönstem Frühlingswetter genießen. Aber der Reihe nach und in aller Kürze, schließlich bin ich müde:
In Italien sind sog. Sozialgenossenschaften weit verbreitet, die - wie der Name ja bereits verrät - Aufgaben im sozialen Bereich, insbesondere auch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen für benachteiligte Gruppen übernehmen. Es gibt Sozialgenossenschaften des Typs A und des Typs B, wobei ich den Unterschied noch nicht genau verstanden habe.
Die vinschgauer Sozialgenossenschaft hat im Winschgau, das im Nordwesten Südtirols und damit im Drei-Länder-Eck Italien, Österreich und Schweiz liegt, einen Betrieb mit inzwischen mehr als dreißig Beschäftigten gegründet. Das Tätigkeitsfeld erstreckt sich auf die Verwaltung eines Internats mit sechzig SchülerInnen (Betrieb der Essensversorgung etc). In Mals gibt es - wie wir in Deutschland sagen würden - ein Leistungszentrum für Wintersport. Die SchülerInnen der Oberschule trainieren im Leistungszentrum und besuchen gleichzeitig die Schule.
Besonders interessant war für mich der Hinweis, dass Betriebe, die eine behinderte Person beschäftigen, für diese keine Sozialabgaben abführen muss. Dies gilt auch für Sozialgenossenschaften. Dies bietet - wie uns vom Verwaltungsratsvorsitzenden der vinschgauer Genossenschaft erläutert wurde - einen wirtschaftlichen Anreiz zur Beschäftigung. Gleichzeitig ist in Südtirol geregelt, dass Aufträge bis zu einer Höhe von 200.000 Euro ohne Ausschreibung vom Land und den Kommunen an Sozialgenossenschaften vergeben werden können. Das Land habe sich darüber hinaus verpflichtet, fünf Prozent seiner Aufträge an Sozialgenossenschaften zu vergeben. Aktuell werde diskutiert, dass dies auch für die Kommunen gelten solle. Die Beschäftigten der Sozialgenossenschaften des Typs A hätten reguläre Arbeitsverträge und auch durch Kollektivverträge abgesicherte Arbeitsverhältnisse. Daneben gebe es in Italien noch Einrichtungen, die mit unseren Tagesstätten vergleichbar seien.
Weiter wurde uns das Konzept der Integrierten Volkshochschule im Winschgau vorgestellt, die in den verschiedenen Ortschaften des Winschgaus einen Einzugsbereich von ca. 35.000 Einwohnern habe. Inzwischen würden etwa 48 Prozent der Kurse von behinderten und nicht behinderten Menschen gemeinsam besucht. Das Programm erscheine auch in Leichter Sprache. Es gebe auch einige wenige Kurse, in denen behinderte Teilnehmerinnen und Teilnehmer "unter sich" seien. Dies beruhe darauf, dass sie sich dies gewünscht hätten. Aus einem der Kurse sei die Idee entstanden, dass in Gluns von Evelin und Martin, die beide ein Handicap haben, Stadtführungen für Kinder und Erwachsene durchgeführt werden könnten. In dem Kurs hätten sich beide sehr an kulturellen Themen und der Geschichte von Gluns interessiert gezeigt, und so sei die Idee der Stadtführungen entwickelt worden. Beide würden diese gegen Honorar machen.
Schließlich wurde uns noch das Modell zur Assistenz von älteren und behinderten Menschen in Stilfs, einem Dorf mit ca. 1.000 Einwohnern, vorgestellt. Die Besonderheit dieses Dorfes bestehe darin, dass dort tagsüber kaum jüngere Menschen seien, weil diese in größeren Orten in der Nachbarschaft arbeiten würden. Ältere und auch behinderte Personen würden aber für Begleitungen, Besorgungen und im Haushalt z.B. beim Putzen oder Kochen Unterstützung benötigen. Diese würde durch die Genossenschaft mit Helferinnen aus dem Dorf organisiert, die reguläre Arbeitsverträge, allerdings mit geringen Arbeitszeiten, hätten. Pro Person würden auch nur zehn Stunden Assistenz pro Woche zur Verfügung gestellt, was aber im Allgemeinen in Stilfs ausreiche, weil die Assistenz eine Ergänzung zur professionellen Pflege sei.
Spannend war hier die Aussage eines Vertreters der Sozialgenossenschaft, dass es sinnvoller sei, Sozialbudgets zu haben, die einer Gemeinde oder einer Stadt bzw. einem Stadtteil zur Verfügung gestellt werden, um soziale Aufgaben wie z.B. die Organisation von Assistenz zu erfüllen als die Leistung einzelnen Personen zuzuordnen. Ein Aspekt über den genauer nachzudenken sicherlich lohnenswert ist.
Am Rande erfuhren wir noch, dass in Südtirol inzwischen auch in zahlreichen öffentlichen älteren Gebäuden Barrieren abgebaut worden seien. Es gebe ein Gesetz, dass auch für Bestandsbauten die Reduzierung von Barrieren vorschreibt. Mir wurde zugesagt, mir dieses Gesetz zuzumailen. Eine Regelung, die sich auf Barrierefreiheit auch für Bestandsbauten bezieht, ist auch für uns in Bremen interessant: Das Bremische Behindertengleichstellungsgesetz soll bekanntlich in den nächsten Monaten überarbeitet werden. Hiermit hat sich ja eine Arbeitsgruppe des Landesteilhabebeirats beschäftigt. Bei der Überarbeitung unseres Behindertengleichstellungsgesetzes wird es auch um die Frage gehen, ob es eine Vorschrift geben wird, die den Abbau von Barrieren auch in Bestandsbauten vorschreibt. In der Diskussion um diesen Punkt kann uns eine entsprechende gesetzliche Regelung helfen.
Die Führung am Nachmittag in Gluns mit Martin und Evelin bei schönstem Sonnenwetter und mit leckerem Eis als Nachspeise war sehr schön:
Beide verschafften uns einen Einblick in die Geschichte von Gluns und einen Überblick über die kleinste Stadt Italiens mit nur etwas mehr als 900 Bewohnern. Die alte Stadtmauer, die zehn Meter hoch ist, ist komplett erhalten ebenso wie die Wassermühle mit ihrem hölzernen Wasserrad. Und vor mehreren hundert Jahren soll die Stadt wegen einer Mäuseplage die Mäuse in einem Gerichtsverfahren dazu verurteilt haben, die Stadt zu verlassen. Ganz scheint dies aber nicht befolgt worden zu sein, denn es gibt noch Schoko-Mäuse, Mäuse aus Ton und hölzerne Mäuse, die wir in zwei Gruppen aufgeteilt suchen mussten. Die Gruppe mit den meisten gefundenen Holzmäusen war Siegerin und wurde mit Schoko-Mäusen belohnt. Nur ging leider eine der Holzmäuse bei der Aktion verloren, was die dicke Katze, die unseren Weg bei der Wassermühle kreuzte, gerade als im Stall ein Hammel blökte, dem Verdacht aussetzte, für das Verschwinden der Maus verantwortlich zu sein.
Beim gemeinsamen Abendessen erhielten wir dann zum Abschied das Rolli Road Book in die Hand gedrückt, das eine Reihe von Rolli-Wanderrouten in den Bergen beschreibt. Bei der Überreichung des Road Books dachte ich: "Es lohnt sich sicherlich, das Portal Südtirol barrierefrei einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Hier tut sich doch eine ganze Menge und wir können hier auch einiges lernen."